«Heute weiss ich, was leben wirklich heisst»
Für die aktuelle Kampagne von Swisstransplant haben wir uns mit verschiedenen Betroffenen getroffen. Sie sind die Gesichter von «Ich lebe jetzt. Ich entscheide jetzt.» und sie lassen uns an ihrer Geschichte teilhaben. Eine dieser Lebensgeschichten ist die von Ana.
Noch vor zwei Jahren war für Ana alles anders. Die damals 19-Jährige wog 38 Kilogramm und hatte ein Lungenvolumen von nur 18 %. Ana leidet an Zystischer Fibrose. Obwohl sie kaum atmen konnte und auf jedem Schritt Sauerstoff mittragen musste, ging Ana zur Schule und absolvierte ihre Ausbildung zur Kauffrau. Wie sie das geschafft hatte, weiss sie selber nicht so genau. «Eigentlich war ich tot», sagt Ana heute. «Damals hatte ich akzeptiert, dass ich keine Spendelunge erhalten werde.»
Anas Geschichte grenzt an ein Wunder. Es ist eine Geschichte mit einem glücklichen Ausgang, obwohl alle Zeichen in die andere Richtung gedeutet haben. Die Art und Weise, wie Ana erzählt und wie sie auf ihre Kindheit und Jugend zurückblickt, passt nicht zu einer 21-jährigen Frau. Sie spricht klar, offen und fast emotionslos darüber, wie ihr Leben an einem seidenen Faden hing. Wenn es jedoch um die kommenden Jahre geht, gerät sie in hoffnungsvolles Schwelgen. Denn seit der Transplantation kann Ana von einer Zukunft, von einem Leben träumen.
«Ich habe meinen Tod akzeptiert»
Normalerweise wird Zystische Fibrose kurz nach der Geburt diagnostiziert. Bei Ana war es ein Prozess, der bis zu ihren 8. Lebensjahr andauerte. Da die Krankheit nie medikamentös behandelt wurde, war sie bereits sehr weit fortgeschritten. Zusätzlich befiel ein Bakterium ihre Lunge, was sie für eine Transplantation in ihrem Geburtsland Serbien ausschloss. Vor sechs Jahren zog sie mit ihrer Mutter und Schwester in die Schweiz. Auch im Kinderspital Zürich schätzte das medizinische Personal das Risiko einer Abstossung von einer Spendelunge als zu hoch ein. Gesundheitlich ging es Ana sehr schlecht. Der kurze Weg von ihrem Zimmer in die Küche um beispielsweise ein Glas Wasser zu holen, war alleine nicht möglich. Immer wieder musste Ana auf der Intensivstation betreut werden. «Irgendwie habe ich diese akuten Phasen aber immer überlebt», erzählt Ana.
Im Juli 2020 verschlechterte sich ihre Situation drastisch. Ana erlitt einen Pneumothorax: Ein Riss in der Lunge führt dazu, dass Luft in die verschiedenen Schichten des Brustfells gerät und die Lunge so teilweise oder vollständig kollabieren lassen kann. Der Riss wurde zwar operativ zusammengeklebt, aber ohne nachhaltigen Erfolg. Ana erhielt die Nachricht, dass sie noch drei bis vier Monate leben wird.
Ana lag auf der Intensivstation und war an einem ECMO-Gerät angeschlossen, das wie eine künstliche Lunge ausserhalb des Körpers funktioniert und das Blut mit Sauerstoff anreichert. Bei diesen Worten schiebt Ana den Kragen ihres gestreiften Hemds zur Seite und zeigt die ungefähr 5 cm lange Narbe am Hals: «Da waren die Schläuche angeschlossen.»
«Ich habe meinen Tod akzeptiert. Meine Gedanken waren dabei nie bei mir, sondern immer bei meiner Mutter. Um sie habe ich mir grosse Sorgen gemacht.» Vor 10 Jahren ist Anas Vater verstorben. Der Gedanke, dass ihre Mutter und Schwester nochmals einen solchen Verlust durchmachen müssen, war für sie kaum tragbar. «Ich wollte deshalb auch nicht, dass mich meine Mutter auf der Intensivstation besuchen kommt. Sie ist immer nur ganz kurz vorbeigekommen. Eine halbe Stunde vielleicht. Länger wollte ich sie nicht sehen. Ich wollte nicht, dass sie mich in diesem Zustand leiden sieht.»
Ana entscheidet sich für die Warteliste
Anas behandelnder Arzt setzte sich dafür ein, dass sie trotz bakteriellem Infekt auf die Warteliste für ein Spendeorgan gesetzt wird. Ana war zunächst dagegen. Denn das Risiko war gross: Von zehn Transplantierten in ihrer Situation überleben nur ungefähr zwei. Anfang August 2020 entschied sich Ana dann doch für die Warteliste. Und das im letzten Moment. Kurz darauf versagte ihre Lunge und sie musste in ein künstliches Koma gesetzt werden.
Ana kann sich heute nur noch daran erinnern, wie sie ihrer Mutter mit dem Handy eine Nachricht geschrieben hat. Ein Abschied mit den Worten: «Ich liebe dich. Pass auf meine Schwester auf.»
Und sie hörte noch, wie jemand gesagt hatte: «Träum etwas Schönes». Dann war sie weg.
Als sie zwei Tage später wieder erwachte, konnte sie die ersten Worte, die sie hörte, kaum glauben: «Ana, du hast eine neue Lunge.» Nur wenige Stunden nachdem sie ins künstliche Koma gesetzt wurde, gab es eine passende Spendelunge für sie. Dies grenzt an ein Wunder, denn durchschnittlich betrug die Wartezeit für eine Lunge im Jahr 2020 154 Tage.
Noch am gleichen Tag ging sie gemeinsam mit ihrer Physiotherapeutin auf die Dachterrasse des Spitals. Da spürte sie es zum ersten Mal. «Da stimmt etwas nicht», dachte Ana, «ich kann atmen».
Es dauerte einige Tage, bis die Erkenntnis wirklich zu ihr durchgedrungen war. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Sie hatte das erste Mal seit langer Zeit das Gefühl, dass sie lebt.
Dass die neue Lunge aufgrund des Anhaltenden bakteriellen Infekts nur eine Lebensverlängerung und keine Heilung bedeutete, war ihr in diesem Moment egal.
Bis im Februar 2021 ging es Ana verhältnismässig gut. Dann kam ein erneuter Schlag. Trotz intensiver Antibiotika-Therapie breitete sich das Bakterium über ihr Ohr bis in die Schädeldecke aus. In ihrem Hirn hatte sich deshalb ein Abszess gebildet. Ana musste sofort operiert werden: Ihr wurden Antibiotikakügelchen operativ in ihren Schädel eingesetzt. «Ich bin die erste Person auf der Welt, die diese Operation überlebt hat.»
Ana erzählt fliessend von ihrer Erfahrung, ohne Stocken, ohne Ausschmückungen. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was sie gerade gesagt hat. Worte gibt es in diesem Moment keine und deshalb höre ich weiter schweigend zu.
Ich beobachte Ana, wie sie kraftvoll spricht und in Momenten lacht, in denen Tränen naheliegender gewesen wären. Ana verbindet viele Gegensätze: Eine Ausstrahlung, die sie viel älter wirken lässt. Eine verspielte Jugendlichkeit, die sich in ihrem Lachen und in der pinken, kleinen Tasche widerspiegelt, die neben ihr auf dem Sofa liegt. Eine Härte, wenn sie über ihre Nahtoderfahrungen spricht und eine starke Verletzlichkeit, wenn sie erzählt, wie einsam sie sich manchmal fühlt, da es schwierig ist in der Schule Freunde zu finden. Im Blick liegt eine Trauer gemischt mit scheinbar grenzenlosem Optimismus und Hoffnung für ihre Zukunft.
«Heute habe ich die Blutwerte eines gesunden Menschen»
Die Nebenwirkungen der grossen Menge an Antibiotika hatte zur Folge, dass Anas Nieren zu versagen drohten. Als Folge davon wurden die Medikamente abgesetzt. Das grosse Glück: Ihr Zustand stabilisierte sich. Eine Untersuchung zeigte, dass die Bakterien verschwunden waren.
«Nach der Transplantation hat niemand geglaubt, dass ich länger als ein Jahr leben werde. Heute habe ich die Blutwerte eines gesunden Menschen», erzählt Ana.
Ana hat in den vergangenen Jahren konstant eine starke Angst begleitet. Vor dem Schlafen hat sie sich gefragt: Werde ich morgen noch leben oder sterbe ich in dieser Nacht? Das erste Mal in unserem Gespräch, lässt Ana etwas los, atmet laut aus und sagt:
Ana feiert das Datum ihrer Transplantation wie einen zweiten Geburtstag. Mit Kuchen, Kerzen und Geschenken. Sie denkt viel darüber nach, was ihre Organspenderin oder ihr Organspender für eine Person gewesen sein könnte. «Ich vermute, dass es ein Mann war, der gerne Motorrad fuhr. Er hat sicher gerne gekocht. Seit meiner Transplantation habe ich nämlich immer Hunger.»
Ana möchte sich bei ihrer Spenderin oder ihrem Spender bedanken. «Jemand hat seine Familie verlassen und ich konnte dadurch wieder zu meiner Familie zurückkehren», ergänzt sie.
Der grosse Traum vom Reisen
Ana will viel erleben – für sich und für ihre Organspenderin oder ihren Organspender. Sie will, dass «sie beide» zufrieden damit sind, was sie nun mit ihrem Leben anstellt. Mit Begeisterung erzählt sie von ihren Zukunftsplänen: «Ich will reisen. Das konnte ich noch nie. Nach der Ausbildung möchte ich ausziehen und dann Jura studieren. Und ich möchte auch Freunde finden.»
Krankheit wird auch in ihrer Zukunft ein Thema bleiben, aber das ist momentan nicht Anas Fokus. Vielmehr geniesst sie im Moment ihr zurückgewonnenes Leben und zum ersten Mal ein Gefühl der Freiheit.
Es bleibt mir nichts anderes als von ganzem Herzen zu wünschen, dass Anas Pläne und all ihre Träume in Erfüllung gehen werden.
Interview und Redaktion: Paula Steck