«Dank meines Spendeorgans bin ich heute gesund»

Im letzten Monat haben wir von Swisstransplant an einer neuen Kampagne gearbeitet und uns dafür mit verschiedenen Betroffenen getroffen. Sie sind die Gesichter von «Ich lebe jetzt. Ich entscheide jetzt.» und sie lassen uns an ihrer Geschichte teilhaben. Eine dieser Lebensgeschichten ist die von Mario.

«Also», sagt Mario und lacht etwas unsicher als er die karierten, losen Notizblätter hervorkramt. Er streicht die dicht beschriebenen Blätter auf dem rechten Oberschenkel glatt und legt sie neben sich in Sichtweite auf das anthrazitfarbene Sofa. Wir sprechen gemeinsam über eine Zeit, an die sich der 21-Jährige nicht erinnern kann. Es sind die ersten Monate seines Lebens.

 

Mario hat seine Eltern vergangene Woche nach dieser schwierigen Zeit gefragt und die Unterhaltung feinsäuberlich dokumentiert. Es sei ein emotionales und schönes Gespräch gewesen.

Am 18.02.2001 werden Annelies und Daniel Eltern eines gesunden Jungen. Die jungen Eltern sind zunächst überglücklich. Erst zwei Monate später wird klar, dass mit Mario etwas nicht stimmt: Seine Augen sind gelb verfärbt. Medizinische Untersuchungen ergeben, dass Marios Leber nicht richtig funktioniert. Er leidet an einer Gallengangsatresie.  

Die Gallengangsatresie ist eine Verstopfung der Gallengänge, die nach der Geburt auftritt. Es handelt sich um eine seltene Erkrankung, die 1 von 18'000 Lebendgeburten in Europa betrifft. 

Eine medikamentöse Behandlung für die Erkrankung gibt es nicht. Der einzige Weg ist eine operative Wiederherstellung der Gallengänge. Bei Nichtbehandlung der Krankheit kommt es zu einer Vernarbung und schweren Funktionsstörung der Leber, die in den ersten Lebensjahren zum Tod des betroffenen Kinds führt.

Mit zweieinhalb Monaten wird versucht, die nicht abfliessenden Gallengänge mit einer Kasaioperation wieder herzustellen. Drei Monate verstreichen, in denen sich Marios Gesundheitszustand verschlechtert – es wird klar: Die Operation hat nicht funktioniert und Mario braucht dringend eine neue Leber. Er wird auf die Warteliste für ein Spendeorgan gesetzt.

 

Eine lange Zeit des Wartens

Es ist eine schwierige Zeit für die Familie Fischer. Mario hat sich in den ersten Monaten im Vergleich zu anderen Kindern kaum entwickelt. Er isst und trinkt wenig und kann weder krabbeln noch aufrecht sitzen, da er so viel Wasser im Bauch hat. Der Alltag der Familie ist getaktet durch das Hin und Her zwischen Zuhause und den Spitalaufenthalten in Luzern und Genf. Auch der Radius, in dem sich die Familie bewegen kann, ist beschränkt. Da sich Mario auf der Warteliste befindet, müssen sie jederzeit erreichbar und in kürzester Zeit im Spital sein können. Vor 20 Jahren ist diese Hürde noch grösser als heute.

Zunächst gehen Marios Eltern nur für das Nötigste aus dem Haus. Erledigungen wie Einkaufen werden kurz gehalten. Sie entscheiden sich, ein Handy zu kaufen. Wenn sie am Wochenende gelegentlich eine Wanderung in den Bergen unternehmen, achten sie jederzeit darauf, dass sie Empfang haben. Sobald kein Netz mehr vorhanden ist, kehren sie um. Ständig präsent ist die Ungewissheit, ob und wann ein passendes Spendeorgan kommt. Die Sorge einen Anruf zu verpassen, ist immer da. So verstreichen drei lange Monate des Wartens.

 

Endlich klingelt das Telefon

Es ist ein Novembernachmittag. Marios Vater ist bei der Arbeit, die Mutter mit Mario bei einer Kontrolle in der Tagesklinik im Kinderspital Luzern. Der Anruf löst ein Gefühlschaos aus: Eine grosse Freude über die Chance auf ein neues Leben für Mario einerseits und anderseits ein grosser Respekt vor den Risiken des bevorstehenden Eingriffs. 

Noch heute, 20 Jahre später, sieht Annelies die Situation von damals wie ein Film vor ihrem inneren Auge. Mit dem Helikopter werden Mario und sie nach Genf ins Universitätsspital HUG gebracht. Es ist das einzige Spital, das Lebertransplantationen bei Kindern vornimmt. Zur gleichen Zeit holt Daniel Zuhause die vorgepackten Koffer und fährt so schnell wie möglich zu ihnen ins Spital. Die medizinischen Abklärungen verlaufen zackig und routiniert. Während der Vorbereitung auf den bevorstehenden Eingriff bis zum Operationssaal weint Mario unentwegt. Ihn dort gehenzulassen und hinter den Doppeltüren verschwinden zu sehen, sei für seine Mutter ein schwieriger Schritt gewesen, so Mario.

Erzählungen von Annelis und Daniel
«Die medizinischen Abklärungen verlaufen zackig und routiniert. Während der Vorbereitung auf den bevorstehenden Eingriff bis zum Operationssaal weint Mario unentwegt.»

Ungefähr 15 Stunden nach dem so lang ersehnten Anruf, kommt Mario endlich aus der Operation. Die Lebertransplantation ist erfolgreich verlaufen.

Besserung in Sicht

Ab diesem Zeitpunkt geht es rasant bergauf: Er ist ständig hungrig, wächst und schliesst in der Entwicklung rasch zu Kleinkindern im gleichen Alter auf. Der Spitalalltag bleibt auch während seines Aufwachsens eine Konstante – jedoch primär als Vorsichtsmassnahme. Mario geht regelmässig zur Kontrolle ins Spital, nimmt Immunsuppressiva, um eine Abstossung der Leber zu vermeiden und muss auch bei einer Grippe ab und zu stationär im Spital bleiben.

Mario erzählt, wie viel es ihm bedeutet, dass seine Eltern all die Zeit im Spital, das gesundheitliche Auf und Ab mit ihm durchgemacht haben. Diese Herausforderungen hat sie zusammen­geschweisst: «Wir haben es sehr gut in unserer Familie. Wahrscheinlich auch genau wegen all dem. Andere Familien zerbrechen an einer solchen Situation, uns hat es näher zusammengebracht.»

Mario
«Wir haben es sehr gut in unserer Familie. Wahrscheinlich auch genau wegen all dem. Andere Familien zerbrechen an einer solchen Situation, uns hat es näher zusammengebracht.»

Ein Entscheid treffen – für sich und die Angehörigen

Vor seiner Geburt hat sich Marios Familie nicht aktiv Gedanken zum Thema Organspende gemacht. Durch seine Erkrankung hat sich das verändert. «In einem solchen Moment erlebt eine Familie, die jemanden verliert, sehr viel Leid und eine andere, wie in meinem Fall, zur gleichen Zeit ein sehr grosses Glück. Das ist irgendwie unfair, so ist aber auch das Leben.» Bei der Frage zu einem Ja oder Nein zur Organspende geht es, laut Mario, nicht nur um sich selbst, sondern auch um die Angehörigen. «Ich möchte nicht für meine Familie entscheiden müssen, ob sie Organe spenden oder nicht. Und genau darum: Du lebst jetzt …». Mario unterbricht und beginnt zu lachen. «Eigentlich sagts ja der Name der Kampagne: … also entscheide dich auch jetzt.»

 

Dankbar für ein gesundes Leben

Der Gedanke, dass Mario ein Organ einer anderen Person in sich trägt, ist heute in seinem Alltag wenig präsent. Die Leber funktioniert bereits seit mehr als 20 Jahren in seinem Körper. Die Operationsnarbe besteht seit er sich erinnern kann. Dies bedeutet für Mario eine gewisse Natürlichkeit im Umgang mit dem Spendeorgan. Wenn er sich aber bewusst mit der Organspende beschäftigt, steigt ein starkes Gefühl der Dankbarkeit auf. Eine Dankbarkeit dafür, dass sich die spendende Person oder ihre Angehörigen für die Organspende entschieden und so Mario die Möglichkeit auf ein neues Leben geschenkt haben.  

Mario
«Ich kann so viele Sachen machen, ohne irgendwelche Schwierigkeiten zu haben. Ich bezeichne mich als gesund. Nein, ich bin gesund.»

«Was ich den Angehörigen dieser Person sagen würde? Ich würde ihnen gerne erzählen, was dank dieser Leber aus mir geworden ist. Es ist nicht selbstverständlich, dass ich so gut ‘zwäg’ bin. Ich kann so viele Sachen machen, ohne irgendwelche Schwierigkeiten zu haben. Ich bezeichne mich als gesund. Nein, ich bin gesund.»

Und was macht Mario heute? Jeden Tag etwas anderes. In seiner Freizeit ist er begeisterter Handball­spieler, beruflich hat er Seilbahn-Mechatroniker gelernt und die Weiterbildung zum Seilbahnfachmann abgeschlossen. Mario sorgt bei der Klewenalp-Stockhütte in Nidwalden für den Unterhalt der Seilbahnen. Für die Arbeit auf den Stützen muss er schwindelfrei und körperlich fit sein. Er zerlegt, putzt, schmiert und prüft Bauteile. Bei schönem Wetter draussen, bei schlechtem Wetter in der Werkstatt. Im Winter kontrolliert er Ski- und Sessellifte, schräubelt an Pistenfahrzeugen und räumt Schnee. Er habe sein Traumberuf gefunden, so Mario.

Interview und Redaktion: Paula Steck