«Ich will nicht überleben, ich will leben»

Im letzten Monat haben wir von Swisstransplant an einer neuen Kampagne gearbeitet und uns dafür mit verschiedenen Betroffenen getroffen. Sie sind die Gesichter von «Ich lebe jetzt. Ich entscheide jetzt.» und sie lassen uns an ihrer Geschichte teilhaben. Eine dieser Lebensgeschichten ist die von Veronica.

Veronica war 20 Jahre alt, als ihre Welt plötzlich kopfstand. Veronica widmete sich ihrer grossen Leidenschaft Musik, baute eine Karriere als Sängerin auf und verbrachte viel Zeit mit Freundinnen und Freunden. Gesundheitlich fühlte sie sich jedoch seit längerer Zeit angeschlagen und ging deshalb zum Hausarzt. Von dort wurde sie notfallmässig ins Spitalzentrum Biel zur Behandlung gebracht: Ihre Nieren versagten. Darauf folgten sechseinhalb Jahre warten, leiden und hoffen.

Veronicas Erzählung scheint kaum zu der Person zu passen, die mir heute gegenübersitzt. Veronica sprüht vor Energie. Ihre Art zu erzählen ist überraschend und zieht einem in den Bann: Mit leichter Stimme berichtet sie von ihrer Diagnose und den zwei Nierentransplantationen. Ihr Lachen ist ansteckend, als sie Anekdoten eines Spitalaufenthalts erzählt: Von Rollstuhlrennen und wie sie jeweils das medizinische Personal unterhalten hat. Diese Heiterkeit steht häufig in starkem Kontrast zum Erzählten. Wie sie lange Monate im Spital verbrachte und einige Male nur knapp am Leben blieb.
Eine Leidensgeschichte mit einigen glücklichen Wendungen in letzter Sekunde, fasst Veronica die vergangenen Jahre zusammen. Ihre Stimme wird dann doch etwas schwer, als sie sagt: «Der einzige Weg, mit dieser schwierigen Zeit umzugehen, war zu lachen.» Es war ihr Weg an den glücklichen Wendungen festhalten zu können.

Verlust der ersten transplantierten Niere

Um ihrem Nierenversagen auf den Grund zu gehen, wurde Veronica im Spitalzentrum Biel biopsiert. Dabei ergaben sich schwere Komplikationen, die sie fast nicht überlebt hätte. «Ich entschied zurückzukommen», erzählt Veronica. Die Zeit in der Dialyse im Inselspital Bern half zwar, ihren Zustand zu stabilisieren, jedoch ging es ihr weiterhin sehr schlecht. Sie kam auf die Warteliste für ein Spendeorgan. Mit 25 erhielt sie die erste Nierentransplantation.
«Manchmal halte ich es fast nicht aus zu wissen, dass jemand gestorben ist und ich dieses Geschenk, eine neue Niere, erhalten habe.» Die spendende Person hat eine grosse Präsenz in Veronicas Leben.

Veronica
«Ich bin jeden Tag dankbar. Wenn in meinem Leben etwas Wichtiges passiert, danke ich meiner Spenderin, meinem Spender. Es ist ein Gedenken in Ehre dessen, was diese Person nicht mehr tun konnte. Ich hoffe, ich kann diesem Geschenk gerecht werden.»

Ein Jahr lebte Veronica mit der Spendeniere, dann begann ihr Körper das Organ abzustossen. Die Niere musste wieder entfernt werden. «Ich erhielt dieses riesige Geschenk und dann kam nach einem Jahr die Abstossung – ein grosser Verlust.»
Veronica war Mitte zwanzig, ihr gesundheitlicher Zustand verschlechterte sich rapid, sodass sie zur Überwachung im Inselspital Bern bleiben musste. Währenddessen standen ihre Freundinnen und Freunde mitten im Leben, vor ihnen entfaltete sich die Zukunft. Sie schlossen die jeweiligen Ausbildungen ab, gingen auf Reisen, verliebten sich und gründeten Familien. Veronica hingegen verbrachte sieben lange Monate im Spital. Ihre Gedanken kreisten um das mögliche Ende ihres eigenen Lebens und der Frage, was danach kommen könnte.
Ihre Bedürfnisse und Wünsche hatten sich verschoben. Sie sehnte sich beispielsweise danach, so viel Wasser trinken zu können, wie sie wollte – nicht nur die vorgeschriebenen 8 dl Flüssigkeit, die auch Mahlzeiten einschloss.

Erlebtes fliesst in ihre Musiktexte ein

Dem behandelnden Arzt Prof. Dr. Frey, zu dem sie über die Monate eine nahe Verbindung aufgebaut hatte, sagte sie in dieser Zeit: «Ich möchte, dass Sie mich gut am Leben halten; ich möchte nicht nur knapp überleben.» Bei diesen Worten zieht Veronica die nach hinten gerutschten Ärmel des weiss gestrickten Pullovers bis zu ihren Handgelenken und lässt die schmalen Finger über der Stelle ruhen, wo sich die Narben von zahlreichen medizinischen Behandlungen verbergen. Nach kurzem Innehalten kehrt ihre verspielte Leichtigkeit zurück. «Dann habe ich ihm versprochen, dass ich nicht als Geist zurückkehren und ihn heimsuchen würde.»
Lächelnd erzählt sie von dem Unfug, den sie mit ihren Freunden und ihren Eltern im Spital angestellt hat. Wie sie beispielsweise dem Pflegepersonal entwischte, um in der Nähe des Spitals eine Pizza essen zu gehen.

Die Musik gewann in dieser Zeit an Bedeutung.

Veronica
«Durch meine Krankheit hat sich alles verändert. Es ging plötzlich nicht mehr nur um Technik, Proben und Konzerte – ich begann die Musik zu spüren. Ich schrieb über meine Erlebnisse und verarbeitete so das Geschehene.»

Zwar hatte Veronica täglich Besuch, aber vor einer Operation war sie schlussendlich immer alleine. In diesen Momenten drängte es sie richtiggehend zum Komponieren.
Prof. Frey machte ein Klavier im Spital ausfindig, damit sie täglich spielen konnte und sagte einmal zu ihr: «Veronica, du musst gesund werden, du musst hier rauskommen», und fragte sie, ob sie an der Spital-Weihnachtsfeier singen würde.

Zweite Nierentransplantation verändert alles

Als sich Veronicas Zustand nach einigen Monaten wieder ein wenig stabilisierte und sie ambulant in der Dialyse war, entschied sie sich für zwei Tage nach London zu fliegen, um dort eine Freundin zu besuchen, die sie sehr lange nicht mehr gesehen hatte. Das Ticket war gebucht und Veronicas Vater wollte sie gerade zum Flughafen fahren. Doch etwas hielt sie zurück. Sie hatte ein unbestimmtes Gefühl, dass sie nicht gehen sollte und so sagte sie das Wochenende kurzerhand ab. Einige Stunden später kam der Anruf, auf den sie so lange gewartet hatte: Es gab ein kompatibles Spendeorgan für Veronica.

Dieses Organ veränderte alles: Sie wurde gesund. Sie fühlte sich befreit. Nun war es ihr möglich zu reisen, auszugehen und mit dem lang ersehnten Musikstudium in London zu beginnen. Der Tag ihrer zweiten Transplantation feiert sie noch heute als «Kidneyversary». Ein Fest mit ihrer Familie und ihren Freunden, wo sie gemeinsam eine Kerze für die Spenderin, den Spender anzünden.
«Ich möchte mich gerne bei dieser Person bedanken. Das Spendeorgan ist nicht nur ein Geschenk für mich, sondern auch ein Geschenk für meine Familie, Freundinnen und Freunde. Ich habe ein Leben, ich kann von der Zukunft träumen, ich kann so viel Wasser trinken, wie ich will. Das ist das schönste Gefühl.»
Nächsten Monat wird Veronica 40 Jahre alt. «Als ich 20 war, habe ich gedacht: So weit werde ich nie kommen. Meinen 40. Geburtstag werde ich nicht erleben. Aber nun kann ich diesen Geburtstag bald feiern. Das ist ziemlich cool.»
Und die Weihnachtsfeier der Station? Veronica lächelt. «An der Weihnachtsfeier habe ich gesungen.»

Interview und Redaktion: Paula Steck