Der Wille der potenziellen Spenderin oder des potenziellen Spenders steht im Mittelpunkt

Im Juni 2022 feierte das Organspendenetzwerk Zürich «Donor Care Association» (DCA) sein 10-jähriges Bestehen. Die Direktorin des Bundesamts für Gesundheit, Anne Lévy, würdigte die Erfolge in der Transplantationsmedizin und das grosse Engagement der Expertinnen und Experten. Hier ein Auszug aus ihrem Referat.

Anne Lévy, Direktorin BAG: «Das Potenzial für mehr Organspenden in der Schweiz ist mit der erweiterten Widerspruchslösung nun gegeben.» Bild: Jonathan Liechti

Die Organspende ist unbestritten medizin-historisch ein grosser Meilenstein. Nur ein halbes Jahrhundert ist es her, als am Universitätsspital Zürich (USZ) mit einer Nierentransplantation der erste Erfolg in der Organtransplantation gelungen ist. 5 Jahre später meisterten die Pionierinnen und Pioniere in Zürich die erste Herztransplantation in der Schweiz. 1973 gelang dem USZ-Team die erste Verpflanzung einer Bauchspeicheldrüse in Europa, 1977 die weltweit erste Bauchspeicheldrüsen-Inselzellen-Transplantation, 1986 die erste Lebertransplantation – die Liste liesse sich mit vielen Beispielen und Erfolgen fortsetzen.

Organspendeprozesse sind ein hochkomplexes und hochspezialisiertes Unterfangen, das die Expertinnen und Experten in den letzten Jahren perfektioniert und professionalisiert haben. Es stellen sich vielseitige Herausforderungen: Organspenden sind nicht mit langer Vorlaufzeit planbar und darüber hinaus sind sie ein seltenes Ereignis. Um erfolgreich zu sein, braucht es reibungslose interdisziplinäre Zusammenarbeit, die unter enormem Zeitdruck zu bewältigen ist: Die Fachleute haben 24 Stunden, 7 Tage die Woche Bereitschaftsdienst und sind jederzeit bereit, Ausnahmesituationen zu meistern.

2022 schreiben wir erneut Transplantationsgeschichte: Das Stimmvolk hat sich im Mai mit über 60 % für die erweiterte Widerspruchslösung bei der Organspende ausgesprochen. Das ist ein erfreuliches Resultat. Mit der bisherigen Praxis stand es in der Schweiz schlecht um die zur Verfügung stehenden Organe: 1'434 Menschen warteten Ende 2021 auf eines oder mehrere Organe. Gespendet wurden im Jahr 2021 insgesamt 481 Organe von 166 verstorbenen Personen. Aus Erhebungen wissen wir aber, dass mehr Menschen bereit wären zu spenden. Mit der Widerspruchslösung wird dies nun einfacher. Wir hätten dreimal mehr Organe gebraucht, um das Leben und die Lebensqualität aller Menschen zu retten, die auf ein Organ angewiesen sind. Die erweiterte Widerspruchslösung dient unserem gemeinsamen Ziel, die Organspendezahlen weiter zu erhöhen und damit die Chancen der Menschen zu verbessern, die auf eine Transplantation angewiesen sind und auf ein Organ warten. Schlussendlich geht es darum, mehr Leben zu retten.

Die erweiterte Widerspruchslösung verbessert auch den Prozess, um den mutmasslichen Spendewillen der verstorbenen Personen besser zu respektieren beziehungsweise die Angehörigen bei der schwierigen Entscheidung zu entlasten. Besonders wichtig ist, insbesondere für die Akzeptanz der Organspende in der Bevölkerung, dass immer der Wille der potenziellen Spenderin oder des potenziellen Spenders im Mittelpunkt steht. Die Fachleute stellen das mit der seriösen Willensabklärung im Spital sicher – heute und auch in Zukunft.

Das Potenzial für mehr Organspenden in der Schweiz ist nun gegeben. Mit dem Systemwechsel ergeben sich mehrere Ziele, die wir gleichzeitig erreichen sollten:

  • Wir erhöhen die grundsätzliche Anzahl und Verfügbarkeit von Organen.
  • Wir geben Menschen, die eine Transplantation benötigen, somit eine bessere Chance, rechtzeitig ein Organ zu erhalten.
  • Wir verbessern die Gesundheit und in der Folge die Lebensqualität der Menschen, die auf ein gespendetes Organ angewiesen sind.
  • Wir können die Angehörigen von schwierigen Entscheidungen entlasten.
  • Und zu guter Letzt können wir die Gesundheitskosten senken, weil Transplantationen im Ver- gleich zu verfügbaren Alternativbehandlungen langfristig die kostengünstigste Option darstellen.

Auf das BAG kommen eine Reihe herausfordernder Aufgaben zu, damit die Umstellung auf die erweiterte Widerspruchslösung erfolgen kann. In einem ersten Schritt müssen wir die Details zur Umsetzung des revidierten Transplantationsgesetzes im Verordnungsrecht regeln, was für uns viel Arbeit bedeutet. Zudem entwickeln wir ein nationales Register, in dem man sein Ja oder Nein zur Organspende eintragen kann und auf das die Verantwortlichen von Spitälern zugreifen können. Weiterhin behalten natürlich die Organspende-Karte und Patientenverfügung    ihre Gültigkeit. Der Wille kann auch im elektronischen Patientendossier EPD  hinterlegt werden. Über das EPD besteht somit die Möglichkeit, die Willensäusserung zur Organspende digital zu erfassen.

Mit der Umstellung sehen wir uns auch mit einer enormen kommunikativen Aufgabe konfrontiert. Bis die Widerspruchslösung in Kraft ist, informieren wir jetzt die Bevölkerung regelmässig darüber, was heute gilt. Zur Einführung der neuen Regelung werden wir dann eine breite, landesweite Kampagne fahren. Die Menschen in der Schweiz müssen bei der Einführung der Widerspruchslösung wissen, dass sie ihren Willen festhalten sollten. Insbesondere, wenn sie nach dem Tod keine Organe spenden möchten, sollten sie ihren Widerspruch hinterlegen. Wir werden einfache, verständliche Informationen zum Thema in zahlreichen Sprachen auf allen möglichen Kanälen zur Verfügung stellen. Selbstverständlich richten wir bei der Auswahl der Massnahmen unseren Blick auch auf Länder, die die Einführung der Widerspruchslösung kommunikativ gut gelöst haben und die Mehrheit der Bevölkerung damit informieren und erreichen konnten.

Die Kommunikation mit den Angehörigen bleibt ein zentraler Aspekt. Die Fachleute in den Spitälern stehen den Menschen in diesen ausserordentlichen Situationen nahe und übernehmen somit eine wichtige Rolle. Ich bin beeindruckt, dass sie den Angehörigen feinfühlig vermitteln, dass es in erster Linie darum geht, den Willen der verstorbenen Person umzusetzen. Insbesondere bei nicht geäussertem Wille braucht es eine umsichtige Herangehensweise.

Ich danke allen Beteiligten herzlich für ihr grosses Engagement.

Anne Lévy, Direktorin BAG,

leitet seit Oktober 2020 das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Die 51-Jährige hat politische Wissenschaften in Lausanne studiert und absolvierte ein Executive MBA an der Universität Freiburg. Seit über 20 Jahren ist sie im Bereich Öffentliche Gesundheit tätig. Zuerst auf kommunaler Ebene im Bereich Drogenpolitik, dann auf internationaler Ebene bei der Uno in New York und anschliessend auf nationaler Ebene im Bereich Suchtprävention. Danach wechselte die Bernerin mit Wohnsitz in Basel auf die kantonale Ebene, wo sie für den Gesundheitsschutz Basel-Stadt arbeitete. Anschliessend war Lévy während 5 Jahren CEO der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

Donor Care Association (DCA)

Die Schweiz ist unterteilt in 5 Organspendenetzwerke. Dem Organspendenetzwerk Zürich, genannt «Donor Care Association (DCA)», sind die 7 Kantone Glarus, Graubünden, Schaffhausen, Schwyz, Thurgau, Zug und Zürich angeschlossen. 2021 verzeichnete das DCA 47 spendende verstorbene Personen. Weitere Informationen: www.dca.ch