10 Fragen an Dr. Sabine Camenisch, Netzwerkleiterin Organspende

Dr. Sabine Camenisch leitet seit Mai das «Organspende Netzwerk Schweiz-Mitte (CHM)». Die Intensivmedizinerin stellt den Menschen ins Zentrum. Besonders wichtig ist ihr, dass der Wille von sterbenden Menschen berücksichtigt und das Abschiednehmen für die Angehörigen stimmig begleitet wird. Sie setzt sich dafür ein, die Prozesse rund um die Organspende würdevoll zu gestalten. Im hektischen Spitalalltag helfen ihr dabei ihre breite Erfahrung, ihre besonnene Art und ihr Sinn für Teamarbeit.

Dr. med. Sabine Camenisch leitet seit Mai das «Organspende Netzwerk Schweiz-Mitte (CHM)». Zur Arbeit am Inselspital ist die 40-Jährige bei jedem Wetter mit dem Velo unterwegs.

Frau Dr. Camenisch, wollten Sie immer schon Ärztin werden?
Nein, ursprünglich dachte ich an Biologie. Doch dann merkte ich, dass der Mensch für mich im Zentrum steht und so war das Studium der Humanmedizin die logische Konsequenz.

Schildern Sie uns bitte kurz Ihren Werdegang.
Während des Medizinstudiums in Basel absolvierte ich Praktika in Südafrika, Norwegen und Ägypten. Das Arbeiten in fremden Gesundheitssystemen gefiel mir. Nach dem Studium begann ich mit Innerer Medizin, dann kam ein Jahr HIV-Forschung in Durban in Südafrika. Danach entschied ich mich für die Anästhesieausbildung, die ich in Liestal begann, auf der Kinderanästhesie in Lille in Nordfrankreich fortsetzte und 2018 am Inselspital in Bern abschloss. Dort folgte die Facharztausbildung Intensivmedizin und weitere Jahre als Oberärztin Anästhesiologie. Seit Mai bin ich Netzwerkleiterin Schweiz-Mitte und seit Juli Oberärztin auf der Intensivmedizin am Inselspital Bern.

Welche Aufgaben haben Sie als Netzwerkleiterin?
Ich bin dafür zuständig, dass mögliche Organspenderinnen und Organspender als solche erkannt werden und die weitere Behandlung, die Angehörigengespräche und Todesfeststellung korrekt ablaufen. Als Transplantationszentrum und Standort des Spendekoordinationsteams spielen die beiden Universitätsspitäler Basel und Bern eine zentrale Rolle im Prozess. Wichtig sind dabei Strukturen und Prozesse, die im Spitalalltag gut funktionieren und zu jeder Tageszeit anwendbar sind. Dies gilt auch für Spitäler, die wenig mit dem Thema in Berührung kommen.

Wann kommt es zum Angehörigengespräch?
Tritt eine Patientin oder ein Patient auf die Intensivstation ein, befindet sie oder er sich in einer lebensbedrohlichen Situation. Unser oberstes Ziel ist es dann, das Leben zu retten. Spätestens wenn wir feststellen, dass wir das Leben nicht retten können, bitten wir die Angehörigen zu einem ersten Gespräch. Wir bereiten sie darauf vor, dass ihr Familienmitglied versterben wird. Das sind immer sehr schwierige Situationen und die Betroffenen befinden sich in einem Ausnahmezustand. Es liegt mir am Herzen, dass wir die Angehörigen empathisch begleiten und sie unsere Beweggründe und Informationen verstehen.

Wie viele solche Gespräche führen Sie und wer ist alles dabei?
Ich führe mehrere Gespräche pro Woche. Die Gesprächsführung ist ein wichtiger Teil unserer Arbeit auf der Intensivstation und wird von allen Ärztinnen und Ärzten gemacht. Kein Gespräch ist gleich und oft bin ich nicht nur als Ärztin, sondern auch als Person sehr gefordert. Wir legen Wert darauf, dass das betreuende Team aus Ärzten, Pflegenden, situationsabhängig Seelsorge, Spendekoordination und nötigenfalls Dolmetscherin eingebunden ist. Je nach Kulturenkreis sind die Familien sehr gross. Zwingend ist, dass wir einen ruhigen Raum zur Verfügung haben und den Angehörigen die nötige Zeit und Aufmerksamkeit für das Gespräch und die Verarbeitung der Information bieten können.

Dr. Sabine Camenisch
«Es liegt mir am Herzen, dass wir die Angehörigen empathisch begleiten.»

Wann sind Sie mit einem Gespräch zufrieden?
Ich freue mich zu hören, wenn die Angehörigen trotz der äusserst schwierigen Situation sagen: Wir verstehen und akzeptieren, dass sie oder er verstirbt. Wir vertrauen, dass sie oder er bei euch in guten Händen ist und in dieser Situation das Bestmögliche gemacht wird.

Kommen wir zur Frage nach der Organspende, wann stellen Sie die?
Das Thema wird in einem zweiten Gespräch behandelt. Meistens vergeht nach dem Erstgespräch etwas Zeit, in der sich die Angehörigen sammeln und auf den baldigen Tod vorbereiten. Manchmal kommt die Frage der Organspende von den Angehörigen schon früher: Was würde eine Organspende bedeuten? Wie wird der Hirntod festgestellt? Wo wird mein Angehöriger operiert? Wie sieht der Leichnam aus und wann können wir uns verabschieden? Für diese Fragen ziehen wir die Spendekoordination hinzu. Sie begleiten die Angehörigen während des ganzen Prozesses vom Entscheid zur Organspende bis Monate darüber hinaus. Die Angehörigen sowie das beteiligte Pflege- und Ärzteteam soll jeden Schritt mittragen und gut abschliessen können.

Welches sind die grössten Herausforderungen?
Unsere Patientinnen und Patienten auf der Intensivstation sind nicht mehr in der Lage, ihren Willen zu äussern. Ist dieser nicht hinterlegt, werden die Angehörigen nach dem mutmasslichen Willen der versterbenden Person gefragt. Ist das Thema vorher nie besprochen worden, sind die Angehörigen in ihrer Extremsituation gefordert, einen Entscheid zu fällen. Oft haben sie Angst, etwas Falsches zu tun, sie möchten vielleicht möglichst rasch aus dieser unangenehmen Situation herauskommen oder finden die Ruhe nicht, sich im Willen der Patientin oder des Patienten zu entscheiden. Dann entscheiden sie tendenziell Nein. Der Organspendeprozess braucht Zeit, das ist vielen nicht bewusst. Umso wichtiger ist es, den Angehörigen alles sorgfältig und in Ruhe zu erklären.

Wie stehen Sie zur erweiterten Widerspruchslösung?
Ich befürworte die Änderung von der heutigen Praxis zur erweiterten Widerspruchslösung und erhoffe mir dadurch eine Haltungsänderung in der Bevölkerung. Im spitalinternen Ablauf wird sich wenig ändern: Die Angehörigen werden weiterhin stark miteinbezogen. Sie haben die gleichen Mitspracherechte wie bei der jetzigen Lösung. Etwas anderes ist ethisch und politisch nicht vertretbar.

Welchen Wunsch haben Sie im Zusammenhang mit der Organspende?
Wir müssen mehr darüber reden, um das Thema zu enttabuisieren. Während der Coronapandemie geschah dies für die Patientenverfügung: Viele Menschen wollten für sich festhalten, dass sie nicht künstlich beatmet werden sollen. Darüber zu sprechen, ist gesellschaftsfähig geworden. Dasselbe wünsche ich mir für die Organspende.

Dr. med. Sabine Camenisch leitet seit Mai 2021 das «Organspende Netzwerk Schweiz-Mitte (CHM)», eines der fünf Organspendenetzwerke der Schweiz. Dem Netzwerk CHM sind 19 Spitäler aus den Kantonen Aargau, Bern, Basel Landschaft, Basel-Stadt, Solothurn und dem Oberwallis angeschlossen. Innerhalb dieses Netzwerks gibt es zwei Transplantationszentren, die Universitätsspitäler Basel und Bern (Inselspital), und das Kantonsspital Aarau (KSA) als Entnahmespital. Die 40-jährige Zürcherin hat Medizin studiert und nach Anstellungen auf der Inneren Medizin und in der HIV-Forschung die Facharztausbildung in Anästhesiologie begonnen. Seit 2019 ist sie zudem Fachärztin für Intensivmedizin. Sabine Camenisch lebt mit ihrem Mann und ihren 4 Kindern in der Nähe von Bern. Zur Arbeit fährt sie bei jedem Wetter per Velo – sogar im Winter – das durchlüfte den Kopf und schaffe Distanz zwischen Arbeitswelt und Familienalltag.