«Aus etwas Tragischem machen wir etwas Positives»

Lisa Straumann arbeitet seit sieben Jahren bei Swisstransplant als nationale Transplantationskoordinatorin. Routine stellt sich da ein, Langeweile nicht. Denn es geht immer um Leben und Tod. Einblick in einen ganz normalen bewegten Dienst.

Kurz nach vier Uhr nachmittags klingelt das Telefon bei Lisa Straumann: Die Spendekoordinatorin des Inselspitals Bern meldet eine Organspenderin an Swisstransplant. «Natürlich ist das tragisch, eine Frau ist gestorben. Aber ich habe Abstand. Ich sehe die Angehörigen nicht, die in Trauer sind. In meinem Job muss ich damit umgehen können.» Denn jetzt beginnt die Arbeit, rund 100 Telefongespräche werden es sein – ein organisatorischer Marathon.

SOAS – Software für die Organspende

Lisa Straumanns Aufgabe ist es, als Schaltzentrale alle Einsätze rund um die Organentnahme und die Organtransplantation in die Wege zu leiten und zu koordinieren. Die Zeit läuft. Zunächst werden alle Angaben der Spenderin ins SOAS (Swiss Organ Allocation System) eingegeben, das ist die Software, die das Bundesamt für Gesundheit für diesen Prozess aufgrund der gesetzlichen Vorgaben zur Verfügung stellt. Darin wird festgehalten, wann der Hirntod eingetreten ist, den zwei unabhängige Ärztinnen und Ärzte nach genau vorgegebenen Kriterien festgestellt haben. Im SOAS ist ebenfalls ersichtlich, ob und wie die Verstorbene ihren Spendewille dokumentiert hat – oder aber, ob sich die Angehörigen in ihrem mutmasslichen Sinn für eine Organspende ausgesprochen haben. Weiter kommen Alter, allfällige Vorerkrankungen und Medikamente, alle Blutwerte aus dem Labor sowie die Daten zu Untersuchungen der Organfunktionen wie Computertomographie oder ein Ultraschall ins SOAS. Erfasst werden zudem Blutgruppe, Serologien wie zum Beispiel HIV oder Hepatitis und die Gewebemarker im Blut der Verstorbenen. Bis alle Resultate da sind, dauert es mindestens 4 Stunden.

Lisa Straumann koordiniert bei Swisstransplant alle Abläufe, die zwischen einer Organspende und einer Transplantation anfallen: «Ich muss die Ruhe bewahren.»

Auf Herz und Nieren geprüft

Die Arbeit von Lisa Straumann ist geprägt von Warten und Gas geben. Obwohl Gas geben gar keinen Sinn gibt: «Eins nach dem anderen – ich kann nicht mit mehr als einer Person gleichzeitig telefonieren. Und ich muss exakt sein, ungenaues Arbeiten wäre fatal.» Sobald alle Werte pro Organ bekannt, eingetragen und kontrolliert sind – oft sind Rücksprachen und Zusatzabklärungen nötig – geht es darum, die passenden Empfängerinnen und Empfänger zu finden. Auch hier hilft das SOAS und generiert pro Organ eine Rangliste der Patientinnen und Patienten, die dringend auf ein Spendeorgan warten. Die Kriterien für die Zuteilung sind gesetzlich vorgegeben. An erster Stelle steht die medizinische Dringlichkeit, gefolgt vom medizinischen Nutzen. Doch zuerst muss die Spenderin freigegeben werden durch den Medical Advisor von Swisstransplant, diese Ärztin wurde von Straumann bereits per SMS vorinformiert. Gemeinsam gehen sie am Telefon alle Informationen im SOAS durch. Der Medical Advisor entscheidet anschliessend, ob die Spenderin freigegeben wird und welche Organe für die Organspende in Frage kommen und welche nicht. Ein Ausschlusskriterium für ein Organ ist, wenn dessen Funktion anhand der Untersuchungen oder Vorerkrankungen nicht mehr genügend ist, wie zum Beispiel wenn ein Diabetes mellitus besteht. Dann kann die Bauchspeicheldrüse nicht gespendet werden und wird vom Medical Advisor nicht zur Spende freigegeben. Entnommen werden zudem nur diejenigen Organe, für die eine passende Empfängerin oder ein passender Empfänger auf der Warteliste im SOAS gefunden wird. Im vorliegenden Fall lehnt der Medical Advisor nebst der Bauchspeicheldrüse auch den Dünndarm ab, dafür ist die 65-jährige Spenderin zu alt.

Wer entscheidet, wer ein Organ erhält?

Die Zuteilung eines Organs an eine empfangende Person erfolgt strikt nach der Organzuteilungsverordnung, die an das Transplantationsgesetz angelegt ist.

Die Warteliste wird nach folgenden Kriterien geführt:

  • medizinische Dringlichkeit
  • medizinischer Nutzen
  • spezifische Prioritätenmerkmale
    (zum Beispiel Kinder, Blutgruppe)
  • Wartezeit

 

Die Kriterien «medizinischer Nutzen» und «spezifische Prioritätenmerkmale» sind von Organ zu Organ unterschiedlich. Die Zuteilung eines Organs erfolgt mithilfe des Computerprogramms Swiss Organ Allocation System (SOAS). Das SOAS enthält die Daten aller empfangenden Personen auf der Warteliste sowie die Daten der spendenden Personen. Anhand dieser Daten berechnet das System die Reihenfolge der eingetragenen empfangenden Personen und erlaubt so eine gesetzeskonforme Zuteilung der Spendeorgane.

Eine Organspende erfolgt unentgeltlich, der Handel mit Organen ist gesetzlich verboten.

Wartelisten und Ranglisten

Alle Beteiligten müssen jederzeit informiert sein, was läuft. Involviert sind nebst den Angehörigen die Spendekoordinatorin im Spital, die Ärztinnen und Ärzte der Intensivstation, das Pflegepersonal, Laborpersonal, Radiologen, Kardiologinnen, Pneumologen, Anästhesistinnen, Transportmitarbeitende und so weiter. Von der Spenderin aus dem Inselspital werden nun Herz, Lunge, beide Nieren und Leber sogenannt «angeboten». Lisa Straumann beginnt mit der Herz-Warteliste. Auf Position 1 steht eine herzkranke Patientin, die dem Transplantationszentrum Bern zugeordnet ist. Die zuständigen Ärztinnen und Ärzte klären ab, ob das Herz «angenommen» wird. Oftmals werden Zusatzuntersuchungen verlangt, um den Entscheid fällen zu können. Lisa Straumann veranlasst die nötigen Schritte und protokolliert jeden Schritt. Nach einer Stunde kommt der Entscheid: Das Herz wird in Bern abgelehnt. «Die medizinische Verantwortung liegt nicht bei mir. Meine Aufgabe ist es zu kontrollieren, ob der Ablehnungsgrund gesetzeskonform ist.» Auf Position 2 steht ein Patient im Einzugsgebiet des Universitätsspitals Zürich (USZ). Hier passt es! Das medizinische Team gibt sein Okay und die Transplantationskoordinatorin des USZ informiert den Empfänger.

In der Zwischenzeit sieht die Organzuteilung so aus:

  • Das Herz geht ins USZ an den Patienten auf Position 2 der Warteliste.
  • Die Lunge passt für keine Empfängerin oder keinen Empfänger in der Schweiz.
  • Die Leber bleibt im Inselspital und geht an eine Patientin auf Position 1 der Warteliste.
  • Die rechte Niere reist nach St. Gallen zu einem Patienten auf Position 7,
  • die linke Niere bleibt in Bern für eine Patientin auf Position 9 der Warteliste.
Die Zeit ist knapp, jede Minute zählt. Gerade Spendeherzen werden wegen des hohen Zeitdrucks oft mit dem Helikopter transportiert. Bild: Andrea Russo

Taxi, Helikopter oder Jet

Lisa Straumann bietet die Lunge, für die in der Schweiz keine passende Patientin oder kein passender Patient gefunden wird mit der Onlineplattform FOEDUS europäischen Partnerorganisationen an, von denen die Schweiz ebenfalls Organangebote erhält. Die Zeit drängt. Die französische Zentrale gibt grünes Licht: Im Pariser Spital Hôpital de la Salpêtrière wartet eine passende Empfängerin auf eine Lunge. Für jedes Spendeorgan wird nun die Entnahme detailliert organisiert. Ist ein Operationssaal frei? Welches Team entnimmt wann «sein» Organ im Inselspital? Mit welchem Transportmittel reisen das Herzteam von Zürich und das Thoraxteam von Paris nach Bern und zurück in ihr Transplantationszentrum – Taxi, Helikopter, Jet? Das Abdominalteam für die Organe des Bauchraums ist bereits im Inselspital und entnimmt auch die rechte Niere für St. Gallen, sie reist alleine mit dem Taxi. Wann ist die Operationsnarbe zugenäht, damit sich die Angehörigen von der Verstorbenen verabschieden können? Minutengenau plant Straumann zusammen mit den lokalen Spendekoordinatorinnen und Spendekoordinatoren und den Partner-Transportunternehmen. Jede Minute zählt. Mittlerweile ist es 23 Uhr. Ein neues Mail im Posteingang: Spanien bietet ein Kinderherz an.

Schnittstelle zu europäischen Ländern

«Manchmal passiert wenig bis nichts während eines Diensts und manchmal haben wir vier Spenderinnen und Spender gleichzeitig und es schneit noch Angebote aus dem Ausland rein.» Wobei reinschneien selbstredend positiv gemeint ist. Das Universitätsspital CHUV in Lausanne nimmt das Kinderherz an. Lisa Straumann koordiniert die Organentnahme mit Spanien, den Transport in die Schweiz und zusammen mit der lokalen Koordinatorin die Transplantation in Lausanne. Eltern und medizinisches Personal werden informiert. Lisa Straumann bewahrt einen kühlen Kopf. «Englisch, Französisch, Deutsch – dieses Durcheinander ist anstrengend, aber diesen Service bieten wir an. Das Ausland hat keinen Zugang zum SOAS, auch hier sind wir die Schnittstelle und geben die Daten ein.» Als grösste Herausforderung nennt sie die Einigung auf einen Zeitplan und «dass alle wissen, wer wann wo sein muss und dann alle da sind. Wir müssen die beste Lösung finden, Kompromisse vorschlagen. Manchmal spielt selbst das Wetter eine Rolle, etwa bei Flügen.»

Die Organentnahme erfolgt im Operationssaal des Spitals, in dem die Spenderin gestorben ist. Bild: Keystone-SDA

Runterfahren nach dem Dienst

Die 39-Jährige schätzt die Zusammenarbeit mit dem Ausland. «Es ist aufregend, plötzlich einen Herzchirurgen aus Birmingham oder eine Spendekoordinatorin aus Berlin am Apparat zu haben». Wenn viel laufe, sei es am spannendsten. Spitalerfahrung beziehungsweise eine medizinische Grundausbildung nennt Lisa Straumann für ihren Job ein Muss, oft mit Zusatzausbildung Intensiv-, Notfall- oder Anästhesiepflege, exaktes Arbeiten und Organisationstalent sind zwingend. Das 10-köpfige Coordination Team von Swisstransplant deckt 365 Tage 24/7 ab. «Die meisten von uns arbeiten 60 oder 80 Prozent, Nacht- und Wochenenddienste gehören dazu. Schon vor der Coronapandemie waren wir perfekt dafür eingerichtet, auch von zuhause aus zu arbeiten.» Straumann schätzt den unregelmässigen Dienstplan: «Das passt mir, es gibt mir viele Freiheiten.» Nach ihrer Schicht an diesem Tag bedankt sie sich bei der Spendekoordinatorin im Inselspital für die gute Zusammenarbeit und übergibt an ihre Kollegin bei Swisstransplant. Den guten Austausch im Team schätzt sie sehr. Es ist sieben Uhr morgens. Lisa Straumann hat Hunger und ist müde. «Nach einer halben Stunde kann ich bereits schlafen. In meinem Job muss man mit dem Tod umgehen können – und mit Wecker, Rasenmäher und Laubbläser.»

Lisa Straumann

Die Swisstransplant-Mitarbeiterin und ihre 9 Kolleginnen und Kollegen schätzen den Austausch mit den Spitälern im In- und Ausland.

ist Deputy Head of National Transplant Coordination und seit 7 Jahren eine von 10 National Transplant Coordinators bei Swisstransplant. Nach der Ausbildung zur Diplomierten Pflegefachfrau HF arbeitete die 39-Jährige am Zieglerspital Bern und danach am Inselspital Bern, unter anderem auf der Abteilung Kardiologie. 2018 zertifizierte sie sich zur europäischen Transplantationskoordinatorin UEMS CETC.

Entscheiden Sie selbst!

Zur Organspenderin oder zum Organspender kann nur werden, wer auf einer Intensivstation in einem Spital verstirbt. In den meisten Fällen geschieht dies unerwartet, zum Beispiel nach einer Hirnblutung, einem Sauerstoffmangel oder einer Schädel-Hirn-Verletzung etwa in Zusammenhang mit einem Unfall. In dieser Situation ist es zu spät, um seinen Willen noch aktiv kommunizieren zu können.

Wer seinen Willen zu Lebzeiten äussert und festhält, sei es zum Beispiel im Gespräch, auf einer Organspende-Karte oder in einer Patientenverfügung, sorgt in einer solchen Notfallsituation für Sicherheit und Klarheit. Es entlastet die Angehörigen im Schock- und Trauermoment enorm, wenn sie wissen, ob eine Organspende ein Thema ist oder nicht. Wenn der Wille nicht bekannt ist, müssen heute – wie in Zukunft – die Angehörigen im mutmasslichen Sinn der verstorbenen Person entscheiden. Eine schwierige Aufgabe. Die kürzlich vom Volk angenommene erweiterte Widerspruchslösung hilft den Angehörigen: Liegt kein Widerspruch der verstorbenen Person vor, können sie davon ausgehen, dass eine Organspende gewollt ist. Der Systemwechsel ist noch nicht in Kraft.

Besser für alle Beteiligten ist immer, wenn der Wille bekannt ist. Die Empfehlung lautet bei der heutigen und bei der künftigen Regelung gleich: Entscheiden Sie selbst, sorgen Sie vor, halten Sie Ihren Willen fest!

Zu wenig Spendeorgane

Die Grafik zeigt die Anzahl der spendenden verstorbenen Personen in der Schweiz in den letzten 10 Jahren. Die durchschnittliche Anzahl transplantierter Organe pro spendender verstorbener Person lag in den beiden vergangenen Jahren bei 2.9 Organen. 2021 konnten in der Schweiz – inklusiv Kooperationen mit europäischen Ländern – 587 Transplantationen durchgeführt werden. Der Bedarf an Spendeorganen ist rund 3-mal höher, als Spendeorgane verfügbar sind. Am 31.12.2021 standen in der Schweiz 1'434 Menschen auf der Warteliste für ein Organ, 72 Menschen verstarben letztes Jahr auf der Warteliste.
Quelle: Swisstransplant