«Dass Mami ihre Organe spenden konnte, hat mir Freude gemacht»
Tragisch, wenn die Frau beziehungsweise die Mutter jung stirbt. Hilft der Gedanke, dass die Verstorbene ihre Organe gespendet hat? Jörg und seine beiden Töchter waren bereit, die Netzwerkkoordinatorin des Luzerner Kantonsspitals und die Redaktorin von Swisstransplant bei sich zuhause zu empfangen. Wir danken für diese Offenheit und die ehrlichen Aussagen. Eine Gesprächsaufzeichnung.
Jörg, Amélie (Mitte) und Léonie: «Gemeinsam versuchen wir, den Verlust von Pia so gut wie möglich zu verarbeiten. Es ist ein ständiges Auf und Ab.»
Jörg: Pia und ich waren über 22 Jahre glücklich zusammen.
Léonie: Mami war gelernte Floristin und hat dann als Sachbearbeiterin gearbeitet. Sie war fröhlich und engagiert in der Gemeinde, sie hat das Kids-Singen ins Leben gerufen, Clown gespielt bei Kindergeburtstagen.
Jörg: Eines Nachmittags sagte Pia, dass sie sich etwas schwach fühle und es ihr mehrmals schwarz vor den Augen geworden sei. Sie war 39-jährig, bisher topfit, Fitnessinstruktorin wie ich. Ihr Hausarzt ging von Belastungsasthma aus. Per Zufall machte sie dann einen Herzcheck.
Es folgt eine achtjährige Krankheitsgeschichte geprägt von Mutmassungen, Abklärungen, Behandlungen und Hoffnung. Die Luzernerin ist noch keine 40 Jahre alt, als sie ihren ersten Herzschrittmacher erhält, ein zweiter und dritter folgen.
Jörg: Pias Herz konnte nicht mehr richtig pumpen. Die Diagnose Sarkoidose erhielten wir erst ganz am Schluss. Diese Autoimmunkrankheit ist wie ein Chamäleon: Sie flammt auf und geht zurück, sie tritt generell sehr selten auf und noch seltener betrifft sie das Herz.
Jeannine: Weil wir in der Schweiz zu wenig Spendeorgane haben, geht es den Betroffenen meistens sehr schlecht, bevor sie auf die Warteliste für ein Spendeorgan aufgenommen werden können. Um auf die Warteliste gesetzt zu werden, sind zuvor umfangreiche medizinische Untersuchungen nötig.
Jörg: Pia hoffte, dass sie möglichst rasch ein Spendeherz erhält. Sie träumte davon, wieder Ski zu fahren. Doch erst musste ihre Lunge behandelt werden, die im Lauf der Jahre auch von Sarkoidose befallen wurde.
Pia konnte nie auf die Warteliste für ein Spendeherz gesetzt werden. Denn auch mit knapp 20 % Herzleistung ging es ihr noch zu gut, um eines der raren Spendeherzen zu erhalten. Im Jahr 2020 warteten in der Schweiz 144 Personen auf ein Spendeherz. Nur 45 Personen wurden herztransplantiert. Pia stirbt im Herbst 2020 mit 47 Jahren unerwartet an einem Schlaganfall und darauffolgenden Hirnblutungen.
Jörg: Es war früh morgens – und es ging alles sehr schnell, die Ambulanz brauchte nur wenige Minuten, bis sie bei uns zuhause war. Im Luzerner Kantonsspital konnte Pia dann sofort operiert werden. Nach wenigen Stunden erhielten wir die Nachricht, dass es schwere Komplikationen gibt und Pia auf die Intensivstation gebracht wird.
Amélie: Bei uns zuhause war der Tod immer ein offenes Thema. Mami hatte mit Léonie und mir sehr offen darüber gesprochen und uns auch gesagt, dass man in den Himmel kommt und zu einem Schutzengel wird.
Léonie: Mein Mami hatte schon früh eine Patientenverfügung geschrieben und mit uns darüber geredet, wie wichtig die Vorsorge ist.
Während der Notoperation im Spital kommt es zu Hirnblutungen. Es folgt ein epileptischer Anfall. Das Intensivmedizin-Team kämpft mit einer weiteren Operation um Pias Leben. Vergeblich. Die Angehörigen werden informiert, dass Pias Leben nicht mehr gerettet werden kann.
Léonie: Mein Gotti, Mamis Schwester, und ihre Brüder kamen daraufhin alle sofort ins Spital.
Jörg: Nie hätte ich gedacht, dass eine Patientenverfügung in einem solchen Moment so brutal entlastet. Man kann nicht mehr klar denken. Pia hatte vorgesorgt. Ich wusste, was sie wollte. Das war eine extreme Erleichterung!
Jeannine: Im Spital erleben wir diese Ausnahmesituation täglich: Normalerweise wissen die Angehörigen nicht, ob ihre Liebsten ihre Organe hätten spenden wollen. Corona hat ein klein bisschen geholfen, dass etwas häufiger eine Patientenverfügung vorliegt.
Glückliche Erinnerungen an Florida – Pia vor ihrem Ferienhaus in den USA. «Uns allen haben die Ferien in Florida immer sehr gefallen. Ich habe viele schöne Erinnerungen daran», erinnert sich Tochter Léonie.
«Pia hatte vorgesorgt. Ich wusste, was sie wollte. Das war eine extreme Erleichterung!» Jörgs Frau Pia wurde mit 47 Jahren zur Organspenderin, während sie selber auf ein Spendeherz wartete.
Pia hat ihren Willen dokumentiert. Sie will ihre Organe spenden. Sie hilft damit fünf Menschen: Ihre beiden Nieren, ihre Augenhornhaut, ihre Bauchspeicheldrüse und ihre Leber werden entnommen und transplantiert.
Léonie: Leider ist das Sterben heute noch immer ein riesen Tabuthema. Und deshalb auch die Organspende. Oft höre ich: Warum sollte ich mich damit beschäftigen, ich bin doch noch so jung.
Jörg: Das Thema Organspende sollte schon in der Schule behandelt werden. Vielleicht mit einem Spiel. Oder zum Beispiel auch alle zu einem Entscheid motivieren, die im Spital sind und eine Routineoperation überlebt haben. Im Spital hat man Zeit, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Sag ja, sag nein, sag etwas – diesen Spruch finde ich genial.
Amélie: Dass Mami ihre Organe spenden konnte, hat mir Freude gemacht. Das hat mir sehr geholfen. Es war der Wunsch von Mami, anderen Leuten zu helfen. Ich konnte mit meinen Freundinnen darüber sprechen und auch in der Schule haben mich meine Klassenkameradinnen sehr unterstützt.
Jörg: Meine Kolleginnen und Kollegen frage ich oft: Hast du einen Organspendeausweis? Oft höre ich dann Ausreden, weil man rauche oder dass man es schon lange mal machen wolle. Da hacke ich nach – unsere Geschichte ist das beste Beispiel dafür, wie wichtig es ist.
Jeannine: Es ist auch legitim, wenn jemand Nein zur Organspende sagt. Das Wichtigste ist, dass der eigene Wille festgehalten und den Liebsten kommuniziert wird.
Léonie ist in der Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit. Ende 2021 hat sie ihre Vertiefungsarbeit dem Thema Organspende gewidmet. Darin kommt auch der Hirntod zur Sprache.
Léonie: Ich wollte meine Arbeit gemeinsam mit einer Kollegin über das Thema Organspende schreiben, um auch jungen Menschen mit meiner Geschichte die Organspende näher zu bringen, bei Ängsten aufzuklären oder Gerüchte richtig zu stellen. Das Thema Hirntod beschäftigt viele Menschen am meisten. Darüber kursieren auch die meisten Falschaussagen. Fakt ist: Bei der Organentnahme ist man im Hirntod und im Hirntod ist man tot.
Jeannine: Bei uns in Luzern wird die Hirntoddiagnostik erst von zwei vom Organspendeprozess unabhängigen Ärztinnen oder Ärzten durchgeführt, wenn die Angehörigen zur Organspende einwilligen.
Jörg: Auf die Angehörigen wird im Spital sehr Rücksicht genommen und auf sie eingegangen. Ich spürte keinen Druck, auch nicht zeitlich. Wer von Organraub spricht, fantasiert! Ich möchte meine Organe auch spenden können, denn selber kann ich sie nicht mehr brauchen, wenn ich tot bin. Ich hoffe, das die erweiterte Widerspruchslösung bald umgesetzt werden kann.
Die erweiterte Widerspruchslösung kommt am 15. Mai zur Volksabstimmung. Wer zu Lebzeiten seinen Willen nicht festgehalten hat, gilt in erster Linie als Organspenderin oder Organspender. Wenn eine schriftliche Dokumentation fehlt, müssen die Angehörigen stellvertretend im mutmasslichen Willen der verstorbenen Person entscheiden.
Jeannine: Das Angehörigengespräch, bei dem wir im Spital über die Organspende sprechen, wird in jedem Fall weiterhin stattfinden. Wenn eine Person zu Lebzeiten ihren Willen nicht festhält, kann eine Organspende von den Angehörigen immer noch abgelehnt werden. Wenn keine Angehörigen da sind und der Wille der verstorbenen Person fehlt, dann gibt es auch keine Organentnahme. Beim jetzigen System nicht und auch nicht mit der erweiterten Widerspruchslösung.
Léonie: Ich sehe bei der erweiterten Widerspruchslösung nur Vorteile. Sie entlastet die Ärzte und die Angehörigen. Zudem muss dann in der Öffentlichkeit mehr über das Thema Organspende gesprochen werden. Die Spendezahlen sollten besser werden.
Jörg: Bereits seit Jahren wird versucht, die erweiterte Widerspruchslösung einzuführen. Das wäre eine super Lösung, die umliegenden Länder zeigen es. Ich möchte, dass das Thema ernster genommen wird.
Jeannine: Man muss sich mit der eigenen Vergänglichkeit auseinandersetzen. Wenn man nicht entscheidet, ist das fies gegenüber seinen Liebsten. Ihr habt das als Familie unglaublich gut gemacht.
Léonie: Organspende darf kein Tabu mehr sein. Sie ist etwas Schönes, man darf nie etwas Negatives darin sehen.
Amélie: Mit der Organspende soll man Hoffnung und Freude verbinden.
Jörg (52)
Mann von Pia, Vater von Léonie und Amélie, selbständiger Unternehmer
Léonie (18)
Tochter von Pia, schliesst bald die Ausbildung zur Fachfrau Gesundheit (FaGe) ab
Amélie (15)
Tochter von Pia, Schülerin in der 3. «Kanti»
Jeannine (42)
Netzwerkkoordinatorin Organspende Intensivstation am Kantonsspital Luzern