Die erweiterte Widerspruchslösung findet Anklang im Nationalrat

Die Diskussion im Nationalrat Anfang Mai hat gezeigt: Das Thema Organspende bewegt. Zahlreiche Mitglieder der grossen Kammer – quer durch alle Parteicouleurs – sprachen sich in persönlichen Voten für oder gegen die Anpassung der bestehenden Regelung aus. Bei der Abstimmung zeichnete sich deutlich ab, dass der Wechsel von der heute geltenden Zustimmungslösung zur Widerspruchslösung ein gangbarer Weg sein könnte. Das Geschäft geht nun weiter an den Ständerat.

Bedeutet ein Schweigen ein Ja? Darum geht es im Grundsatz bei der Widerspruchslösung im Zusammenhang mit Organ- und Gewebespende. Die Initiative «Organspende fördern – Leben retten» verspricht sich mit dem Wechsel von der heutigen erweiterten Zustimmungslösung zur Widerspruchslösung einen Anstieg an Organspenden. Denn die Wartezeit auf ein passendes Spendeorgan ist lang. In der Schweiz wartet man heute im Mittel drei Jahre auf die Zuteilung einer Niere. Letztes Jahr umfasste die Warteliste in der Schweiz 1'457 Personen, jede Woche versterben ein bis zwei Menschen auf der Warteliste. Und dies obwohl laut Umfragen die grosse Mehrheit der Bevölkerung der Organspende positiv gegenüber steht: Sie findet es einen tröstlichen oder sogar selbstverständlichen Gedanken, ihre Organe bei einem medizinischen Notfall, der unausweichlich zum Tod führt, zur Verfügung zu stellen und so die Lebensqualität eines Mitmenschen zu erhöhen. Doch mehr als die Hälfte der Bevölkerung hält ihren Entscheid weder schriftlich fest noch kommuniziert sie ihn gegenüber Angehörigen. Hektik, Alltag und Lebensfreude verbannen die Dokumentation dieses wichtigen Entscheids auf die lange Bank. Und plötzlich tritt der unerwartete Schicksalsschlag ein …

Angehörige entscheiden zurzeit häufig gegen Organspende
Wenn nicht bekannt ist, wie die verstorbene Person zur Organspende steht, müssen die Angehörigen am Spitalbett stellvertretend in ihrem Sinn entscheiden. Da heute mit der Zustimmungslösung die fehlende Willensäusserung rechtlich einem Nein gleichkommt, können sich viele Angehörige in der schwierigen Situation des Schocks, des Verlusts und der Trauer emotional nicht zu einem Ja durchringen. Mehr als die Hälfte der Angehörigen lehnen im Ernstfall eine Organspende ab und verfehlen so oft den Wunsch des geliebten verstorbenen Menschen.

Flavia Wasserfallen, Nationalrätin SP/BE

«Die Nationalratskommission möchte mit diesem indirekten Gegenvorschlag, der eine erweiterte Widerspruchslösung vorsieht, Menschenleben retten, die Spendequote erhöhen und gleichzeitig auch erreichen, dass sich mehr Menschen der Schweizer Bevölkerung zu ihrem Spendewillen äussern.»

Manuela Weichelt, Nationalrätin Grüne/ZG

«Der Tod gehört genauso wie die Geburt zu unserem Leben. Wir müssen uns damit anfreunden, dass wir alle irgendwann sterben. Wir sind deshalb gut beraten, zu Lebzeiten zu entscheiden, ob wir dann bereit sind, unsere Organe zu spenden – und zwar für Menschen, die damit noch einige Jahre leben können.»

Erweiterte Widerspruchslösung bringt Systemwechsel
Die Widerspruchslösung der Initiative würde das ändern. Sie interpretiert die fehlende Willensäusserung als ein Ja zur Organ- und Gewebespende. Wer nach seinem Tod seine Organe nicht spenden will, soll dies explizit in einem Register festhalten. Der Bundesrat steht einem Systemwechsel offen gegenüber, denn auch er möchte die Versorgung mit Spendeorganen und -geweben verbessern und damit die Chancen für Menschen, die auf ein Organ oder ein Gewebe warten. Doch die sogenannt enge Variante der Widerspruchslösung, wie sie die Initiative verlangt, geht dem Bundesrat zu weit. Er bevorzugt, wie bisher die Angehörigen miteinzubeziehen und schlägt deshalb mit dem indirekten Gegenvorschlag die erweiterte Widerspruchslösung vor: Ist der Wille einer verstorbenen Person nicht klar dokumentiert, werden weiterhin die Angehörigen befragt. Die psychologisch weniger belastende Frage für sie lautet dann: Spricht etwas gegen die Organ- und Gewebespende? Ist den Angehörigen bekannt, dass die verstorbene Person nicht hätte spenden wollen, oder vermuten sie dies schon nur, so können die Angehörigen eine Organ- und Gewebespende ablehnen.

Vertiefte Diskussion und Registereintrag erwünscht
Ein zentrales Argument für die Widerspruchslösung ist, dass der Druck auf die Gesellschaft steigt, sich mit dem Thema Organspende auseinanderzusetzen. Anträge im Nationalrat, wonach eine Willensäusserung zum Beispiel auf der Identitätskarte oder in der Steuererklärung obligatorisch sein sollten, blieben vorerst chancenlos. Die Bevölkerung muss aber selbstverständlich im Fall einer neuen Widerspruchslösung umfassend informiert und zu einer Willensbekundung mittels Registereintrag motiviert werden – sei es ein Ja oder ein Nein. Seit mehr als zehn Jahren bereits appelliert das Bundesamt für Gesundheit regelmässig an die Bevölkerung, über die Organspende zu reden und den persönlichen Entscheid festzuhalten.

Nationalrat favorisiert erweiterte Widerspruchslösung
Die engagierte Debatte im Nationalrat hat exemplarisch veranschaulicht, dass Befürworter und vor allem Gegner der Widerspruchslösung vehement die Klingen kreuzen, mitunter mit einer scharfen Rhetorik, die selbst vor dem Begriff «Ersatzteillager» nicht zurückschreckt. Bei der Schlussabstimmung befürworten die Parlamentarierinnen und Parlamentarier klar die erweiterte Widerspruchslösung. PD Dr. Franz Immer, Direktor Swisstransplant, Facharzt für Herzchirurgie FMH, zieht zuversichtlich Bilanz: «Ein Systemwechsel wäre ein begrüssenswerter Schritt. Er würde vielen Menschen helfen, die auf ein Spendeorgan oder -gewebe angewiesen sind. Gleichzeitig würde die erweiterte Widerspruchslösung die Angehörigen und das Spitalpersonal entlasten. Und sie würde den Willen der Verstorbenen besser berücksichtigen.»

Regine Sauter, Nationalrätin FDP/ZH

«Die Schweiz ist eines der Länder mit den tiefsten Organspenderaten in Europa. Die Wartelisten mit Personen, die dringend auf ein lebensrettendes Organ angewiesen sind, sind lang. Und immer wieder sterben Menschen, weil innert nützlicher Frist kein passendes Spendeorgan gefunden werden konnte.»

Franz Grüter, Nationalrat SVP/LU

«Während wir heute hier sprechen, warten rund 1'500 Patienten – Menschen – hier in der Schweiz auf ein Organ. Das sind alles einzelne Schicksale. Das sind Leute – Patienten, aber auch Angehörige –, die in einer riesigen Verzweiflung sind.»

Nationalrat sagt Ja zur erweiterten Widerspruchslösung

Der Nationalrat hat am 5. Mai 2021 mit 150 zu 34 Stimmen bei 4 Enthaltungen der erweiterten Widerspruchslösung zugestimmt. Die erweiterte Widerspruchslösung ist vom Bundesrat als indirekter Gegenvorschlag zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten» konzipiert. Er hebt die Wichtigkeit des Vetorechts der Angehörigen hervor, betrachtet den Willen der verstorbenen Person als massgebend und legt die Führung eines Ja-/Nein-Registers fest – angesiedelt bei der nationalen Zuteilungsstelle. Neben dem klaren Ja zum Gegenvorschlag fand auch die Initiative eine knappe Mehrheit mit 88 Ja, 87 Nein und 14 Enthaltungen. Diese Resultate bieten eine gute Ausgangslage für die Behandlung im Ständerat, voraussichtlich im September 2021.

Die Organspende ist nur bei Hirntod im Spital möglich

Die Voraussetzungen für eine Spende bleiben auch mit einem Systemwechsel gleich wie heute: Organe spenden können nur Personen, die im Spital einen Hirntod infolge Hirnschädigung oder Herz-Kreislauf-Stillstand erleiden. Verstirbt jemand ausserhalb des Spitals, ist eine Organspende nicht möglich.